Immunendokrinologie: Wenn Hormone das Immunsystem steuern – und umgekehrt

Die Immunendokrinologie ist eines dieser Gebiete der Medizin, das lange kaum Beachtung fand. Erst in den letzten Jahren beginnt man zu begreifen, wie eng unser Hormonsystem und das Immunsystem verwoben sind. Dabei ist dieses Wissen von unschätzbarem Wert – gerade in Zeiten, in denen chronische Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und hormonelle Dysbalancen auf dem Vormarsch sind.

Hormone als stille Dirigenten des Immunsystems

Seit 25 Jahren begleite ich Menschen, die mit den unterschiedlichsten Beschwerden zu mir kommen. Manche klagen über unerklärliche Müdigkeit, andere über häufige Infekte, wieder andere über hartnäckige Gewichtszunahme oder depressive Verstimmungen. Auf den ersten Blick scheint nichts diese Symptome zu verbinden. Doch schaut man genauer hin, zeigt sich oft eine tiefere Ursache: ein gestörtes Gleichgewicht zwischen Hormonen und Immunsystem.

Ein Beispiel: Cortisol, unser Stresshormon, ist ein mächtiger Regulator der Immunabwehr. In akuten Stresssituationen fährt es das Immunsystem herunter, um Energie für Flucht oder Kampf bereitzustellen. Hält Stress jedoch an – sei es durch beruflichen Druck, Schlafmangel oder emotionale Belastungen –, dann beginnt Cortisol das Immunsystem regelrecht zu lähmen. Die Folge: Infektanfälligkeit, chronische Entzündungen und ein höheres Risiko für Autoimmunerkrankungen.

Ein anderes Beispiel ist Östrogen. Frauen leiden häufiger an Autoimmunerkrankungen als Männer, weil Östrogen bestimmte Immunzellen stimuliert. Das ist während einer Schwangerschaft von Vorteil, kann aber bei Erkrankungen wie Rheumatoide Arthritis oder Hashimoto-Thyreoiditis zum Problem werden. Männer hingegen haben dank ihres Testosterons eine eher gedämpfte Immunreaktion – was zwar seltener zu Autoimmunerkrankungen, aber dafür zu einer schwächeren Abwehr gegen Infektionen führen kann.

Auch die Schilddrüsenhormone spielen eine entscheidende Rolle. Ein Mangel an Schilddrüsenhormonen – wie bei einer Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) – kann die Immunfunktion beeinträchtigen und die Entstehung von Infektionen begünstigen. Umgekehrt kann eine Überfunktion, etwa durch Morbus Basedow, das Immunsystem in eine chronische Alarmbereitschaft versetzen.

Wenn das Immunsystem die Hormone aus dem Gleichgewicht bringt

Die Wechselwirkung funktioniert auch in die andere Richtung: Entzündungen beeinflussen das Hormonsystem. Chronisch erhöhte Entzündungsmarker wie Interleukine oder TNF-alpha können die Insulinempfindlichkeit senken – ein Mechanismus, der mit Diabetes Typ 2 und Insulinresistenz in Verbindung steht. Auch die Schilddrüse leidet unter dauerhafter Immunaktivierung, weil sie besonders empfindlich auf entzündliche Prozesse reagiert.

Viele Patienten mit unerklärlicher Erschöpfung oder Gewichtszunahme haben eine unerkannte latente Entzündung, die ihre Schilddrüsenhormonproduktion bremst. Und wie oft sehe ich Frauen in den Wechseljahren, die plötzlich unter Autoimmunerkrankungen leiden – nicht selten ausgelöst durch die hormonellen Umstellungen.

Ein weiteres Beispiel ist das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS), das oft nach Virusinfektionen auftritt und bei vielen Betroffenen mit einer Dysregulation der Stresshormone und einer chronischen Immunaktivierung einhergeht. Auch hier zeigt sich, dass das Immunsystem und das Hormonsystem in ständiger Wechselwirkung stehen.

Die Rolle der TH1/TH2-Balance

Ein besonders spannendes Konzept in der Immunendokrinologie ist die TH1/TH2-Balance. Unser Immunsystem besteht aus zwei Hauptarmen: TH1-zellvermittelte Immunität, die für die Bekämpfung von Viren und intrazellulären Erregern zuständig ist, und TH2-vermittelte Immunität, die vorrangig auf Parasiten und Allergene reagiert.

Viele Autoimmunerkrankungen lassen sich durch eine Verschiebung dieser Balance erklären. Hashimoto-Thyreoiditis beispielsweise neigt dazu, TH1-dominiert zu sein, während Neurodermitis oder Asthma häufig mit einer TH2-Überreaktion einhergehen. Hormonelle Veränderungen – etwa ein Abfall des Cortisols oder Schwankungen im Östrogenspiegel – können dieses Gleichgewicht empfindlich stören. Wer sich näher mit der TH1/TH2-Balance beschäftigen möchte, kann in diesem weiterführenden Beitrag mehr dazu lesen.

TH17/Treg-Balance

Neben TH1 und TH2 spielt auch TH17 eine wichtige Rolle, besonders bei Autoimmunerkrankungen und chronischen Entzündungen. Eine Überaktivierung von TH17 ist mit Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Psoriasis assoziiert. Regulatorische T-Zellen (Tregs) sind hingegen entscheidend, um überschießende Immunreaktionen zu bremsen.

Einfluss durch Hormone: Cortisol und Progesteron fördern Tregs, während chronischer Stress und Östrogendominanz TH17-Überreaktionen begünstigen.

Mitochondrien und Immunendokrinologie

Die Energieversorgung durch Mitochondrien ist essenziell für hormonelle und immunologische Prozesse. Viele Betroffene mit CFS oder Autoimmunerkrankungen haben eine mitochondriale Dysfunktion, die zu energetischer Erschöpfung und verstärkter Entzündung beiträgt.

Praktische Maßnahmen: Coenzym Q10, L-Carnitin, Alpha-Liponsäure und eine anti-entzündliche Ernährung unterstützen die Mitochondrien.

Darm-Immunsystem-Hormon-Achse

70 % unseres Immunsystems sitzt im Darm. Darmbakterien beeinflussen nicht nur die Immunantwort, sondern auch den Hormonhaushalt, insbesondere Östrogen (über den enterohepatischen Kreislauf). Dysbiosen können entzündliche Immunreaktionen triggern und hormonelle Dysbalancen verschärfen.

Lösungsansatz: Präbiotische Lebensmittel, fermentierte Produkte und eine darmfreundliche Ernährung stabilisieren die Darm-Hormon-Achse.

Circadiane Rhythmen und Hormon-Immunsystem-Interaktion

Hormone und Immunzellen unterliegen einem Tag-Nacht-Rhythmus. Schlafmangel, Schichtarbeit oder Blaulicht am Abend können Cortisol, Melatonin und Immunreaktionen durcheinanderbringen.

Tipp: Regelmäßige Schlafzeiten, Vermeidung von Blaulicht vor dem Schlafen und ausreichend Tageslicht fördern eine gesunde Hormon- und Immunregulation.

Die Praxis: Entzündungen und Hormone ins Gleichgewicht bringen

  • Cortisol regulieren: Stressmanagement ist entscheidend. Meditation, Atemübungen und regelmäßige Bewegung sind keine esoterischen Spielereien, sondern hochwirksame Mittel, um die Stressachse zu beruhigen. Adaptogene Heilpflanzen wie Rhodiola oder Ashwagandha können helfen, die Cortisolausschüttung auszubalancieren.
  • Entzündungen senken: Eine antientzündliche Ernährung mit Omega-3-Fettsäuren, viel Gemüse, Polyphenolen aus Beeren und grünen Tees kann das Immunsystem beruhigen. Vitamin D ist ein entscheidender Regulator des Immunsystems – viele Menschen haben hier einen chronischen Mangel.
  • Schilddrüse unterstützen: Eine ausreichende Versorgung mit Selen, Jod und Zink ist essenziell, um Autoimmunreaktionen auf die Schilddrüse zu minimieren.
  • Hormonhaushalt stabilisieren: Frauen mit Östrogendominanz profitieren oft von Progesteron-unterstützenden Maßnahmen wie Mönchspfeffer, während Männer durch Krafttraining und gesunde Fette ihren Testosteronspiegel natürlich regulieren können.
  • Blutzucker stabilisieren: Eine ausgewogene Ernährung mit wenigen schnellen Kohlenhydraten kann Insulinresistenz entgegenwirken und das Zusammenspiel zwischen Immunsystem und Stoffwechsel verbessern. Zimt, Bitterstoffe und eine gesunde Darmflora helfen ebenfalls, den Blutzucker in Balance zu halten.

Ein neuer Blick auf die Medizin

Die Immunendokrinologie lehrt uns, dass Körperfunktionen nie isoliert betrachtet werden dürfen. Wer nur das Immunsystem stärkt, ohne auf das Hormonsystem zu achten, wird nur begrenzten Erfolg haben – und umgekehrt.

Unsere Hormone und unser Immunsystem stehen in einem ständigen Dialog. Wer dieses Gespräch versteht, kann viele chronische Beschwerden an der Wurzel packen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass auch die klassische Medizin endlich beginnt, diesen Zusammenhang ernster zu nehmen.